Vor kurzem bin ich über einen Beitrag in meiner englischsprachigen Zeitung World and Press gestolpert und musste sofort an die mittlerweile nahezu omnipräsente Debatte zum Thema Geschlechterrollen und Gendern denken. Das 2014 gegründete Londoner College Harris Westminster Sixth Form geht neue Wege in der Anrede seines Lehrpersonals: Schüler dürfen künftig ihre Lehrerinnen nicht mehr mit „Miss“ und ihre Lehrer nicht mehr mit „Sir“ ansprechen – eine Anrede, die in anderen englischen Schulen quasi als Autoritätsbezeugung gegenüber dem Lehrpersonal noch immer weit verbreitet ist. Stattdessen sind die Lehrer nun mit ihren Namen anzusprechen. Alternativ dürfen die Schüler auch „Teacher“ sagen, falls der oder dem einen oder anderen Mal der Name der Lehrperson entfallen sein sollte. Der Grund für den Sinneswandel: Mit „Sir“ assoziiere man starke Typen wir Sir Lancelot und mit „Miss“ eher kleine, zartbesaitete junge Frauen. Die Anrede zementiere also überkommene Geschlechterrollen und verkleinere Frauen unangemessen.
Längst ist natürlich Sir Lancelot kein Vorbild mehr für junge Männer (auch in England nicht 😉) und die Anrede „Fräulein“ – mit der ich assoziiere, dass unverheiratete Frauen keine vollwertigen Frauen waren – existiert zum Glück nicht mehr in Deutschland. Obwohl ich da gar nicht so sicher bin, denn tatsächlich sprach mich noch vor zirka zehn Jahren eine ältere Mitreisende auf einer Gruppenreise so an! Dennoch ist und bleibt es so, dass wir alle mit bestimmten Begriffen bestimmte Bilder verbinden. Und dass die Bilder – je nachdem, worum es sich handelt – bestimmte Geschlechterrollen zementieren. Man denke nur an die Berufsbezeichnungen „Arzt“ und „Krankenschwester“ beziehungsweise den Ausdruck „zum Arzt gehen“. Welche Eigenschaften und Merkmale verbinden wir mit einem Arzt und welche mit einer Krankenschwester?
Wie ich jemanden anspreche – ob privat oder geschäftlich – hat immer eine große Wirkung und geht natürlich weit über das Thema Geschlechterrollen hinaus. Werde ich in meinem Lieblingscafé geduzt, ist das völlig okay für mich – denn es ist studentisch geprägt und jeder, der sich quasi in diesem Mikrokosmos befindet, erfährt dieselbe Behandlung. Ich gehöre dazu und das gefällt mir. Und das andere Extrem: Will man in einem gehobenen Restaurant besonders höflich sein und tituliert mich als „meine Dame“, dann bewirkt das, dass ich mich wie ein Fossil fühle, was mich natürlich nervt. Und geschäftlich? Soll ich meine Zielgruppe siezen oder duzen ist sicherlich die häufigste Frage, die sich gerade Marketer stellen. Und: Soll ich überall dieselbe Ansprache nutzen oder etwa in Fachtexten siezen und in den Social Media duzen? Und wie halte ich es mit der direkten Anrede in Schriftform? Darf es das sehr förmliche „Sehr geehrte XY/sehr geehrter XY“, das etwas saloppere „Guten Tag …“ oder gar das eher informelle „Liebe/r …“ oder „Hallo …“ sein?
Fakt ist, dass Sprache – ob geschrieben oder gesprochen – das Denken beeinflusst. Genau wie umgekehrt Sprache ein Ausdruck unseres Denkens ist. Deshalb finde ich es richtig und gut, dass die englische Erziehung – die bis dato sicher nicht als progressiv-experimentell bekannt ist – langsam aber sicher neue Wege geht und durch die Anrede des Lehrpersonals mit ihren Namen erstens den unbedingten Gehorsam gegenüber Autoritäten auch sprachlich abschafft und zweitens überkommene Geschlechterbilder aufbricht.
Denken wir darüber nach, was wir mit Sprache bewirken können und dass sie ein mächtiges Instrument ist. Ganz egal, ob es um das Privat- oder Geschäftsleben geht.