Es  war nicht mehr viel Zeit an diesem Dezembernachmittag, denn schon in weniger als zwei Stunden würde es dunkel sein. Trotzdem Zeit genug für eine kurze Waldwanderung. Der kleine Parkplatz neben dem Polizeipräsidium in Darmstadt war wie immer fast zugeparkt, denn viele Besucher des nahe gelegenen Marienhospitals nutzen diese kostenfreie Parkmöglichkeit. Sie schlug den Weg entlang des ehemaligen Kasernengeländes ein. Die Bewegung und die frische Luft taten gut. Sie beschleunigte ihre Schritte, atmete tief durch und musste lächeln. Schon nach so kurzer Zeit entfaltete der Wand seine wohltuende, fast heilsame Wirkung. Weiter ging es nach links einen sanft ansteigenden, breiten Waldweg, der auf den Spuren der Fahrräder und Fußgänger vom Regen am letzten Tag ein bisschen matschig war. Doch wenn man sich in der Mitte oder ganz am Rand auf den dunkelbraun, herbstlich verfärbten Blättern hielt, ging es. Bisher hatte sie nur ein paar wenige Jogger und Rentner getroffen, die meisten Besitzer der Autos auf dem Parkplatz waren also wohl tatsächlich ins Klinikum gegangen. Wie gut, dass sie dort nicht hin musste! Plötzlich empfand sie Dankbarkeit für den freien Nachmittag, den sie gesund im Wald genießen durfte. Nach ein paar hundert Metern stieg sie den schmalen Pfad zur Ludwigshöhe, Darmstadts Hausberg, hinauf. Die Kinder, die auf dem Spielplatz neben der kleinen, hüttenarten Gaststätte spielten, hörte sie schon von weitem. Sie machte keinen Abstecher zum Aussichtspunkt, von dem man bei guter Fernsicht Frankfurt und den Taunus sehen konnte, sondern stieg gleich den steilen Pfad auf der anderen Seite wieder hinunter. Ein paar rotgesichtige Jogger, die den Atem wie Dampfloks ausstießen, kamen ihr entgegen. Sie sahen nicht so aus als ob sie Spaß hätten, schade.

Bald lief sie weiter auf dem Teil des „Siebenhügelsteig“, den sie besonders mochte zunächst geradeaus durch dichteren Waldbestand. Sie befand sich nun auf der Marienhöhe, an deren Ende sie den kleinen, hölzernen Marientempel mit dem geschindelten Spitzdach erreichte. Von dort aus konnte sie einige Gebäude des Internats sehen. Schnell lief sie weiter bergab auf dem verschlungenen Pfad, der bald auf einen breiteren Waldweg mündete und dann weiter ein Stück Richtung Eberstadt. Nur kurz hielt sie inne an der Wegkehre mit den zwei Bänken, von wo aus man eine gute Sicht auf das Dorf und Teile der Rheinebene hatte. Der gespaltene Apfelbaum auf der Streuobstwiese genau vor ihr schien immer noch zu leben. Aber heute hatte sie keine Ruhe zum Sitzen, sie wollte sich bewegen und ging deshalb schnellen Schrittes weiter in Richtung Prinzenberg. Der kleine Aussichtsberg zählte zwar zu ihren Lieblingsplätzen. Doch viel Zeit würde ihr nicht mehr bis zur Dunkelheit bleiben und so ließ sie den Aufstieg heute lieber sausen.

Schon waren kaum noch Menschen unterwegs. Der Wald war wieder ihr zweites Wohnzimmer, das ihr ganz allein gehörte. Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die herbstlich kahlen Äste der mächtigen Buchen am Wegesrand, die sich wie dunkle Arme gegen den tiefblauen Himmel abzeichneten. Ein Geschenk, dieser Nachmittag! Am Ende der kleinen Streuobstwiese unterhalb des Prinzenbergs bog sie links ab und schlug den Rückweg ein. Doch unbedingt wollte sie an ihrem absoluten Lieblingsplatz, einer Lichtung mitten im Wald unter riesigen Buchen, vorbeikommen. Der Ort war Teil des Waldkunstpfades, doch trotzdem ziemlich versteckt. Er war ganz besonders und strahlte eine magische Atmosphäre aus. Ganz oben in einer Baumkrone war ein hölzernes Waldkunstobjekt, genannt „Waldfrucht“, angebracht. Es erinnerte jedoch eher an ein Herz. Eine schöne Vorstellung, dass dort das Herz des Waldes im immer gleichen Takt schlug. Unter dem Baum hatten die Künstler eine runde Holzplattform montiert, von der man auf dem Rücken liegend die Waldfrucht betrachten konnte. Unweit davon stand seit kurzem ein weiteres Kunstwerk, das einem großen, weißen Zelt mit Löchern in unterschiedlichen Formen und Größen glich. Es war lustig, durch die Löcher zu schauen und so immer einen anderen Ausschnitt des Waldes zu sehen. Heute war sie ganz alleine an ihrem Lieblingsort. Kein Wunder, denn es würde ja gleich dunkel werden.

Also ging sie früher weiter, als sie eigentlich wollte und kam wieder auf einen der Hauptwege. Wieder hatte sie eine ganz bestimmte Route im Sinn: Einen Pfad, der über einen im Wald versteckten Hügel mit hohen Fichtenbäumen führte und der ihr auch besonders gut gefiel. Vor ihr führten zwei schmale Pfade in den Wald, die parallel zu verlaufen schienen. Bisher war sie immer in umgekehrter Richtung gelaufen, wusste also nicht, wie der Weg an der Stelle und von dieser Seite aussah. Sie entschied sich für den linken Pfad, denn der rechte schien fast direkt zurück zum Parkplatz zu führen und das wollte sie ja nicht. Doch schon nach ein paar Gehminuten war klar, dass sie den falschen Weg erwischt hatte. Bestimmt konnte sie einfach quer durch den Wald auf die richtige Route kommen! Sie schaute nach rechts und sah nicht weit weg mehrere, hohe Fichtenbäume stehen. Dort musste sie hin, denn die Bäume kannte sie ja! Auf dem unebenen Waldboden kam sie langsamer voran als gedacht. Sie duckte sich unter Zweigen hindurch, stieg über Totholz und Gestrüpp und passte auf, dass sie nicht in irgendeiner schlammigen Bodenmulde versank. Der Wald war überraschend hügelig und um zu den Fichten vorzudringen, musste sie eine Art Sandkrater hochklettern, der mit allerlei Ranken und ihr unbekannten Pflanzen überwuchert war. Oben angekommen merkte sie aber sofort, dass dort kein Weg und das also auch nicht die Fichtenbäume waren, die sie erwartet hatte. Mist! Wie konnte dieses kleine Waldstück zwischen den Hauptwegen doch so groß sein? Und die Wege nicht nebeneinander, sondern offensichtlich voneinander weg verlaufen! Es half nichts, sie musste sich weiter durch den Wald schlagen in der Hoffnung, auf den Hauptweg oder zumindest auf irgendeinen Weg zu stoßen. So langsam wurde es dämmrig. Um sie herum knackte es immer wieder und sie fühlte sich verfolgt. An vielen Stellen war der Waldboden von Wildschweinen zerwühlt. Hoffentlich kam ihr keines der Tiere plötzlich in die Quere. Aufgeschreckte Wildschweine reagieren meist aggressiv und so klatschte sie sicherheitshalber ab und zu in die Hände. Sie erinnerte sich an die Wanderungen in Kanada. Dort sollte das Klatschen allerdings Bären vertreiben.

Der Wald nahm und nahm kein Ende. Plötzlich überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. Nur kurz ausruhen, danach wusste sie bestimmt weiter. Der Parkplatz musste ganz in der Nähe sein und notfalls konnte sie ja die Taschenlampe vom Handy anmachen. Schließlich war sie nicht in Kanadas schier unendlichen Wäldern! Mittlerweile war sie so müde, dass sie sich einfach ins weiche, feuchte Laub legte und die Kapuze über den Kopf zog. Sie erwachte von verschiedenen Geräuschen wie Gesang, das Klappern von Töpfen und das Hacken von Holz mit einer Axt. Vielmehr hatte sie den Eindruck erwacht zu sein, da sie sich recht schläfrig fühlte. Sie lief auf ihr Dorf zu, das aus wenigen Holzhütten, ein paar armseligen Stallungen und einer Schänke bestand. Wie immer trug sie den einfachen Umhang aus Sackleinen und ging Barfuß. Sie musste vergessen haben, wie geplant Nüsse und Kräuter im Wald zu sammeln. Stattdessen hatte sie sich wohl ein Schläfchen gegönnt. Die anderen würden sauer sein, wenn das Abendessen nur aus ein paar Kartoffelstücken in Mehlsuppe bestand. Was war nur mit ihr los? Wie konnte sie am helllichten Nachmittag schlafen? Auch hatte sie plötzlich den Eindruck, von ganz weit herzukommen. Bestimmt hatte sie geträumt, aber sie konnte sich partout nicht erinnern.