Eine Geschichte zwischen Realität und Utopie

Es war in diesem Sommer, der keiner war. An den meisten Tagen zogen bedrohliche, schwarze Wolken am Himmel auf und es gingen heftige Regengüsse auf Menschen, Tiere und Pflanzen hernieder. Seen lagen verwaist in der Landschaft und Schwimmbäder vereinsamt in der Stadt und die Bademeister schauten trübsinnig auf die Wasseroberfläche, auf die immer wieder wahre Sturzfluten prasselten. Die meisten Menschen gaben es irgendwann auf, genau die wenigen Sonnenstunden abzupassen, um ihren Badesee oder ihr Schwimmbad zu besuchen. Wie sollte man auch noch mit sommerlichem Wetter rechnen, wenn man sich nicht mehr traute, ohne Regenjacke oder Schirm die Wohnung zu verlassen. Der ständige, besorgte oder missmutige Blick aus dem Fenster wurde bei vielen schon fast zwanghaft. Denn schließlich wollte man ja einschätzen können, wie schlimm es an diesem Tag kommen würde. Und es kam leider oft schlimm. Erdrutsche entstanden und Züge entgleisten – nicht etwa sonst wo auf der Welt, sondern ausgerechnet im beschaulichen Baden-Württemberg, mitten in Schwaben. Keller liefen voll und die Feuerwehr rückte aus. Damit nicht genug, wurden die Regengüsse oft von tosenden Stürmen begleitet. Diese rissen mehr und mehr Bäume aus der Erde, deren Wurzeln von Dürre und Schädlingsbefall ohnehin angegriffen waren. Wie überdimensionierte Mikado-Stäbchen lagen sie kreuz und quer mitten im Wald und auf den Wegen und boten ein trauriges Bild der Verwüstung.

Was also tun? Es gab doch nur einen Sommer im Jahr, auf den die meisten Menschen hin fieberten: Am See liegen und ins Wasser springen, den unvergleichlichen Mischgeruch aus Sonnencreme, Chlorwasser und Schwimmbad-Pommes einatmen und diese genüsslich auf der Liegewiese verspeisen, Eis essen, in lauen Nächten auf dem Balkon oder im Garten die Nacht zum Tag machen, barfuß über taufeuchte Wiesen laufen, Federball und Tischtennis spielen im Park, mit dem Fahrrad durch den grünen Sommerwald sausen und, und, und … wie nur könnte man den Sommer zurückbringen? Diese Zeit der Leichtigkeit, in der die allermeisten Menschen am allerwenigsten an ihre Sorgen und Nöte dachten. Und vor allem: Warum wurde das Wetter immer extremer? Sollte vielleicht doch der Klimawandel dafür verantwortlich sein? So langsam begannen auch die größten Leugner von Klimaveränderungen über diesen Zusammenhang nachzudenken. Warum sie das taten, war schließlich egal. Vielleicht hatte sie nur das schlechte Wetter bei ihrem Freizeitvergnügen gestört. Oder sie waren beim Radfahren um ein Haar über einen darniederliegenden Baum gestürzt. Oder das viele Leid im nicht vorhandenen Sommer hatte sie doch mitten in ihrem Menschsein getroffen, wachgerüttelt und letzten Endes endlich ein Nach- und Umdenken bewirkt.

Wie auch immer. Die Menschen begannen nach und nach damit, Kleinigkeiten zu ändern. Sie flogen weniger in den Urlaub und nahmen stattdessen den Zug. Denn Bahnfahren war wesentlich günstiger geworden. Sie ließen nicht sinnlos die Motoren ihrer PKWs laufen. Überhaupt gab es immer weniger Autos, da ja viele die Öffis oder das Fahrrad nutzten. Teure E-Bikes hörten auf, Statussymbole zu sein. Denn der Staat hatte beschlossen, das Herstellen elektronischer Fahrräder – genau wie das Produzieren aller E-Fahrzeuge – großzügig zu bezuschussen. Dafür musste dann eben etwas weniger für die Kriegskasse ausgegeben werden. Und die Leute kauften immer weniger Lebensmittel, die in Plastik verpackt waren und ließen ihre Verpackungen schon gleich gar nicht irgendwo im Park oder im Wald herumliegen. Denn Hersteller, die ökologisch abbaubare Verpackungen nutzten, gab es inzwischen genug. An der Technologie hatte es ja schließlich nicht gelegen, die war längst da. Und zu teuer waren solche intelligenten Verpackungen inzwischen auch nicht mehr – denn begabte Planer und Erfinder hatten Produkte und Abläufe ständig weiterentwickelt. Überhaupt war die Menschheit noch so bewusst, neugierig und innovativ wie sie seit Urzeiten war.  Warum diese positiven und wichtigen Eigenschaften mehr und mehr verloren gegangen waren, das konnte sich keiner mehr erklären. Wie hatte das passieren können? Nun brachten Eltern ihrem Nachwuchs schon im Kindesalter bei, wie wertvoll die Natur und jede einzelne Jahreszeit ist, nicht nur der Sommer. Auch wenn der Sommer natürlich noch immer etwas ganz Besonderes war. Und so kam der Sommer wieder öfter zu den Menschen und erfreute sie, wie es schon immer gewesen war. Und die Natur erholte sich und rebellierte immer weniger mit Katastrophen. Doch der Sommer, der keiner war, den vergaßen die Menschen nie. Er ging als Wendepunkt des Klimawandels in die Geschichte ein.